- Kierkegaard: Rückzug in die Innerlichkeit
- Kierkegaard: Rückzug in die InnerlichkeitDer Däne Søren Kierkegaard, der 1813 geboren wurde und bereits im Alter von 42 Jahren in Kopenhagen verstarb, war ein Wegbereiter der Philosophie des 20. Jahrhunderts, und er prägte wesentlich dessen Menschenbild. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts herrschte noch immer ein idealistisches Verständnis vom Menschen; Hegel war noch immer der »Papst« der Philosophie. Doch in Kierkegaards Augen hatte Hegel den konkreten Menschen aus seinem spekulativen System der Philosophie ausgeklammert. Sein Begriff der »Existenz« sei für den lebendigen Menschen nichts weiter als eine leere Verheißung: Es ist so, als würde man in der Auslage eines Geschäfts ein Schild sehen, auf dem »Bierstube« geschrieben ist. Wenn nun jemand den Krämerladen betritt und meint, hier könne er seinen Bierdurst stillen, würde er gehörig ausgelacht und bekäme keinen Tropfen zu trinken. Was in diesem Kaufladen angeboten wird, ist ja nur das Schild »Bierstube«. Die Philosophie ist für Kierkegaard nur dann bedeutungsvoll, wenn sie den konkreten Menschen anspricht, und der Idealismus ist eine abstrakte Philosophie. Der Mensch ist in dieser blutleeren Philosophie wie ein Patient, den der Arzt vom Fieber befreit, indem er ihm das Leben nimmt. Was nach Kierkegaard wesentlich zum Menschsein gehört, ist die Fantasie, das Gefühl, die Leiden in »Existenzinnerlichkeit«. Daher muss in seinen Augen jedes philosophische oder theologische System wie ein Kartenhaus zusammenstürzen, das den konkreten Menschen, seine Existenz, seine Subjektivität nicht einbezieht.1841/42 hörte Kierkegaard in Berlin die Vorlesungen des alten Schellings, der gegen Hegels »Wesensphilosophie« und »Existenzvergessenheit« polemisierte. Kierkegaardselbst jedoch ging es um wesentlich mehr, nämlich um die Verwirklichung der konkreten Existenz und nicht nur um die Erkenntnis von Existenz. Der Mensch verwirklicht seine Existenz, indem er nicht im Denkakt verbleibt, wie es Descartes' »Cogito ergo sum« nahe legte, sondern denkend sein Leben vollzieht, seinen Denkprozess im Handeln umsetzt. Kierkegaard sah nicht nur in der idealistischen Philosophie die Verneinung des konkret lebenden Menschen, sondern auch in den bestehenden Institutionen, besonders in den Kirchen: Das »Bestehende« war für ihn Ausdruck der Zerstörung der Existenz, da in ihm ein handlungsfeindliches Element enthalten ist. Zudem wird der Mensch durch das Allgemeine nivelliert. Das Bestehende deckt die Mittelmäßigkeit, schafft Masse anstatt einzelner, innerlicher Menschen. So ist die bestehende Kirche eine destruktive Gemeinschaft. Sie spiegelt den Menschen. Christentum vor, betreibt jedoch selbst, seit sie durch die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert Staatskirche geworden ist, einen Ausverkauf des Christentums. Sie hindert nämlich das Kirchenmitglied an seiner Bestimmung zur Selbstwerdung, das heißt zum Christsein.Aber nicht nur Philosophie und Kirche zerstören nach KierkegaardKierkegaard den Einzelnen als Subjekt, sondern ebenso die Politik. In ihr gilt nicht der Einzelne, sondern die Menge. In den heraufziehenden Demokratien des 19. Jahrhunderts sah er die Herrschaft der Massen, die »Tyrannei« der Mehrheit, die die wirkliche Größe des Einzelnen einebnet. Kierkegaard verteidigte jedoch nicht die bestehende Ordnung, etwa die »konstitutionelle Monarchie«, sondern das Recht des konkreten Menschen auf sein einmaliges Leben. Die demokratische Gemeinschaftskonzeption war für ihn Ausdruck der Flucht vor der inneren Verantwortung. Die Menschen werden in ihr unkenntlich wie Polizisten in Zivil. Die »Distinktion« und mit ihr der Einzelne verschwinden in der Volksmasse. Die Menge ist daher die Unwahrheit. Sie kennt keine Verantwortung, und der konkrete Mensch wird nicht respektiert. »Alle Macht dem Volk«, heißt für Kierkegaard Gemeinschaftsterror. Der Einzelne hat hier nur noch als eine quantitative Bestimmung Bedeutung.So wird nach Kierkegaard die konkrete Person dreimal verraten: durch die Philosophie, die Kirchen und den Staat. Kierkegaard stellte sich persönlich die Frage, ob er zu einer Verbindung und Gemeinschaft mit einem Menschen fähig sei. In der Ehe sah er für sich keine Möglichkeit, ein Selbst zu werden. So löste er die 1840 geschlossene Verlobung mit Regine Olsen bereits 1841 wieder, dennoch trug er zeit seines Lebens, wie berichtet wird, den Verlobungsring. Als Gründe dafür, keine Beziehung einzugehen, gab er an, dass er sich für nicht fähig halte, eine Ehe zu führen, da ihm die »tierische Bestimmung« fehle und er ein bürgerliches Leben in einer glücklichen Ehe für ein Unrecht an der religiösen Bestimmung des Menschen erachte. Nur wer wirklich zuvor ein Einzelner, eine Person geworden ist, kann sich mit einer anderen zusammenschließen, sonst wird dieser Zusammenschluss beide gemein machen. Erst das Individuum, das in sich ethische Haltung gewonnen hat, kann sich »in Wahrheit« vereinigen, sonst bleibt diese Vereinigung genauso verderblich wie eine Kinderehe. Nur aus der Vollkommenheit einer konkreten Person kann wahre Gemeinschaft entspringen.Kierkegaards entscheidende Frage ist die nach dem Sinn der je konkreten Existenz. Er fragte nicht allgemein nach einem menschlich sinnvollen Leben, sondern danach, wie jeder in seiner Einmaligkeit zu einem Sinn des Leben gelangen kann. Sinn ist nach Kierkegaard nichts Vorgegebenes, nichts, was auf einer philosophischen Entdeckungsreise gefunden wird, sondern der Sinn von Existenz kann nur in einem geschichtlich-zeitlichen Leben erfahren werden: Sinn kann daher nicht begrifflich dargestellt und verallgemeinert werden. Seine Verwirklichung ist stets einmalig. Der Sinn des Existierens liegt also in der Einmaligkeit eines jeden, der sein Selbst gefunden hat; er geschieht im Vollzug der eigenen Existenz und kann nicht delegiert werden, weder an die Menschheit noch an eine Gottheit.Kierkegaard unterschied drei Weisen, wie Menschen leben können: die ästhetische, die ethische und die religiöse Existenzweise. Der Mensch als ästhetische Existenz steht nur in Beziehung zur Außenwelt und lebt unter dem Einfluss von außen. Er ist nicht fähig, eine ernsthafte Beziehung einzugehen. Don Juan ist dafür der Prototyp. Der Mensch gaukelt sich selbst etwas vor. Erkennt der Mensch jedoch seine Situation, wird er verzweifeln. Die Verzweiflung aber kann ihn zu einem »qualitativen Sprung«, zur Hinwendung in die Innerlichkeit führen. Der Mensch beginnt in der ethischen Existenzweise, ein Selbst zu werden; er erkennt sich selbst. Erst jetzt kann man eigentlich vom »Existieren« sprechen; vorher war der Mensch einfach nur »vorhanden«. Indem nun der Mensch sich selbst setzt, wird er »Bild Gottes«. Der Mensch vollzieht sich nun als Konkreter. Diese sittliche Existenz ist aber nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern schließt den Einsatz für andere ein. Ein solcher Mensch leistet maieutische Hilfe (»Hebammendienst«): Er trägt zur Selbstwerdung anderer bei. Das Paradigma dafür ist Sokrates. Aber auch in der ethischen Existenz ist die Angst noch nicht überwunden; die Existenz bleibt angefochten in der Welt und vom Scheitern bedroht. Im Scheitern des endlichen, menschlichen Selbst kommt jedoch das göttliche Selbst in den Blick. Wenn die ethische Existenz sich selbst fragwürdig wird, entspringt in ihr die Innerlichkeit der religiösen Existenz. Während die außengesteuerte ästhetische Existenz aufgegeben und zurückgelassen wird, bleibt die ethische Existenz auch im religiösen Kontext. Ethische und religiöse Existenz bilden eine paradoxe Einheit; denn der Mensch lebt weiterhin in der Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.Erst wenn der Mensch diese Spannung bewusst vollzieht, kehrt er bei sich ein und ist zum Einzelnen befreit; er ist nun in Freiheit gesetzt. Für Kierkegaard erweitert die religiöse Existenzweise den endlichen Menschen um das Unendliche. Der Mensch gründet nun »durchsichtig« in Gott, das heißt, er hat sich selbst bewusst gefunden und ist zu einem Selbst geworden. Ist Sokrates bleibendes Paradigma für die ethische Existenz, so Jesus Christus für die religiöse. Christus hat sich selbst ständig verifiziert und war Vollzug der Wahrheit. Dies gilt ebenfalls für den religiös existierenden Menschen: Die Wahrheit liegt nicht in einem Objekt, sondern in dem sich stets neu verifizierenden Selbst; Wahrheit existiert nur im Werden, im Subjektwerden. Von Wahrheit kann Kierkegaard nur sprechen, wenn sie die Existenz des Menschen trifft und sein Werden mitmacht. Daher Kierkegaards berühmter Satz: »Die Subjektivität ist die Wahrheit, die Subjektivität ist die Wirklichkeit.« Ethisch-religiöse Wahrheit kann nicht objektiviert, sondern nur durch den Einzelnen verwirklicht werden. Steht das Subjekt in keinem Verhältnis zur Wahrheit, ist es in der Unwahrheit, in der Sünde; Wahrheit muss in der Subjektivität konkret werden, sonst verfehlt der Mensch sich selbst und den Sinn seines Lebens. Für Kierkegaard ist daher nur der Mensch, der wirklich zu sich selbst gekommen ist, ein. Christ.Prof. Dr. Dr. Gotthold Hasenhüttl
Universal-Lexikon. 2012.